Francesco Bartolomeo Conti ist ein bekannter Unbekannter. Er gilt unter Eingeweihten als einer der spannendsten und wichtigsten Komponisten seiner Epoche – des Wiener Barocks. Damit ist er weit mehr als ein Geheimtipp.
Mit einem starken, individuellen, umfangreichen Schaffen und großem Theaterinstinkt hatte der aus Florenz stammende Francesco Bartolomeo Conti (1682–1732) ab 1713 eine der begehrtesten Positionen, die des Wiener Hofcompositeurs, auf Lebenszeit inne und damit das Privileg, von 1714 bis 1725 exklusiv die Opern der Karnevalssaison zu komponieren. International bekannt wurde er mit seiner Tragikomödie „Don Chisciotte in Sierra Morena“, die zwischen 1720 und 1737 über 25 Mal auch außerhalb Wiens aufgeführt wurde.
Seine Werke sind bisher nicht in zuverlässigen Editionen zugänglich und damit nicht im Musikleben präsent. Dieser Umstand motivierte den Dirigenten und Musikwissenschaftler Marco Comin, eine wissenschaftlich-kritische Ausgabe vorzubereiten. Mit der Oper „Penelope“ von 1724 startet die Editionsreihe. Im Interview erklärt Comin, woher seine Leidenschaft stammt.
[t]akte: Um Conti kurz zu charakterisieren: Was kennzeichnet seine Musik? Was reizt Sie besonders an diesem Komponisten?
Comin: Zuallererst seine Phantasie und seine sehr starke musikalische Persönlichkeit. Diese drücken sich beispielsweise durch die Harmonie aus. Die Musik von Conti ist einerseits sehr italienisch – lyrisch, sinnlich, lebendig – und zeigt viel Humor, andererseits ist sie von meisterhaftem Kontrapunkt gekennzeichnet; damit meine ich nicht nur seine Kirchenmusik und seine Oratorien, sondern auch seine Bühnenwerke, in denen man immer wieder fugierte Arien findet. Auch Contis Rezitative sind ungewöhnlich originell: Ihre Harmonie ist viel abwechslungsreicher und weniger vorhersehbar als in den meisten Rezitativen dieser Zeit.
Wie verlief die Spurensuche zu seinen Werken?
Einst hörte ich das Offertorium „Languet anima mea“ von Conti im Radio und war zutiefst beeindruckt. Johann Sebastian Bach, der dieses Werk offensichtlich schätzte, kopierte es eigenhändig, um es in Leipzig und sogar früher schon in Köthen, wo er aber nicht für Kirchenmusik zuständig war, aufzuführen. Wenn Bach, der in der Wahl anderer Komponisten sehr anspruchsvoll war, diese Musik geschätzt hat, wird das wohl von Bedeutung sein! Ich versuchte also, mir Partituren – im Sinne von modernen Ausgaben – von Contis Werken zu besorgen … und fand gar keine. Beim weiteren Recherchieren stieß ich aber auf ein Buch von Hermine Weigel Williams, das einzige, meines Wissens, das Contis Leben und Werk gewidmet ist. Darin erfuhr ich, dass die meisten Kompositionen Contis in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien aufbewahrt sind. Dann fand ich einen Artikel von Lawrence Bennett über die Musiksammlung von Herzog Anton-Ulrich von Meiningen, in der sich Abschriften von einigen dieser Werke befinden. Schließlich nahm ich mir ein Sabbatical als Dirigent, um mich der Musik Contis zu widmen. Wie ein Kind in einem Spielzeugladen blätterte ich durch seine Opern und Oratorien und dachte dabei: „Die Welt muss diese wunderschöne Musik kennen!“.
Für die Edition eines Werkes versuche ich mich natürlich so vieler Quellen wie möglich zu bedienen. Da Conti zu seiner Zeit nicht nur als ein phänomenaler Theorben-Virtuose, sondern auch als ein hochbegabter Komponist in ganz Europa bekannt war, waren einige seiner Werke auch außerhalb Wiens im Umlauf. Daher bin ich immer auf der Suche nach Abschriften und Kopien, die mir helfen können, eine möglichst fundierte philologische Ausgabe herzustellen. Oft ist das schwer, weil die musikwissenschaftliche Literatur sich sehr wenig mit Conti und schon gar nicht mit den Quellen seiner Werke beschäftigt hat.
Ihre Editionsreihe beginnt mit der Tragicommedia „Penelope“ und den allseits bekannten Vorgängen um die Heimkehr des Odysseus, die mit Nebenhandlungen ergänzt werden: „all diese und andere ähnliche Dinge wurden erfunden und für genug plausibel und angemessen gehalten, um der Handlung der Komposition mehr Reiz zu verleihen“, heißt es im „Argomento“, der Handlungserzählung im Vorspann. Es geht also um musikdramatische Wirksamkeit. Was ist besonders an diesem Werk?
Sicherlich seine Ausgewogenheit, sein geniales dramaturgisches Timing und die gekonnte Abwechslung von witzigen und ernsthaften Szenen; man hat fast den Eindruck, an der Schwelle zur Klassik zu stehen. Hier muss ich natürlich auch das brillante Libretto von Pietro Pariati erwähnen. Und ja, die schiere Schönheit und die Vielfältigkeit dieser Musik! Diese ist aber nicht nur schön und fetzig, sondern sie unterstützt durch eine breite Palette von Affekten, Farben usw. das Bühnengeschehen in all seinen Facetten. Conti zeigt seinen ausgeprägten Sinn für die szenische Wirkung. Gute Beispiele dafür sind nicht nur die Arien Penelopes, sondern auch die des Odysseus, auf dessen Eifersucht und dem Wunsch, die Treue seiner Frau auf die Probe zu stellen, die ganze Oper basiert, ebenso die des Sohnes Telemachus und die der zwei Freier usw. Einfach brillant!
In „Penelope“ kommt auch ein ganz spezielles Instrument zum Einsatz: das Pantaleon, ein großes, im tiefen Register umfangreicheres Hackbrett. In seinen früheren Bühnenwerken hat Conti mehrmals Sonderinstrumente wie die Mandoline, das Chalumeau und das Baryton verwendet, aber schon zu Beginn der 1720er-Jahre verzichtete er darauf. Für „Penelope“ machte er 1724 eine Ausnahme, und sogar das Libretto fordert für die Schlussszene des zweiten Aktes ausdrücklich den Klang eines Salterio. Das hat mit Sicherheit damit zu tun, dass im vorigen Jahr der Hackbrettvirtuose Maximilian Hellmann nach Wien zog und in die Hofkapelle aufgenommen wurde. Offensichtlich wollten sich Conti und Pariati diese Gelegenheit nicht entgehen lassen!
Ihre Ausgabe ist als Beginn einer Editionsreihe geplant. Können Sie einen Ausblick auf die weiteren Schritte geben?
Nach „Penelope“ werden „Galatea vendicata“ und „Il finto Policare“ an der Reihe sein. Das erste von diesen Werken, eine „Festa teatrale“, praktisch eine einaktige kleine Oper, liegt mir besonders am Herzen. Der Mythos von Acis, Galatea und Polyphem passt perfekt zum musikalischen Temperament Contis: Da finden wir sowohl zarte, bewegende als auch unwiderstehlich rhythmische Arien, den gewaltigen Chor der Zyklopen, eine äußerst sinnliche Strophenarie mit Mandoline … also eine sehr breite Palette! Dann möchte ich mit Contis geistlichen Oratorien anfangen. Das erste wird das wunderschöne „La colpa originale“ sein. Mein Plan ist, Bühnenwerke und Oratorien möglichst parallel herauszugeben, damit nicht nur Opernhäuser, sondern auch andere Musikinstitutionen die Möglichkeit bekommen, die Musik von diesem genialen Komponisten aufzuführen.
Die Fragen stellte Marie Luise Maintz
(aus [t]akte 1/2025)