Die Neuausgabe der Oper „Dardanus“ von Jean-Philippe Rameau in der Fassung vom Mai 1744 präsentiert das Werk in seiner vom Komponisten beabsichtigten definitiven Gestalt.
Nach Hippolyte et Aricie (1733) und Castor et Pollux (1737) ist Dardanus Rameaus dritte „Tragédie lyrique“, die in Paris zur Aufführung gelangte. Dass sie innerhalb von nur fünf Jahren in zwei deutlich verschiedenen Fassungen vorgelegt wurde, verweist bereits auf ihre einzigartige Rezeptionsgeschichte. Das Libretto von Leclerc de La Bruère schildert die Liebesgeschichte zwischen dem jungen Krieger Dardanus, der gegen Teucer, König der Phryger, Krieg führt, und dessen Tochter Iphise. Doch die junge Frau ist einem anderen Krieger versprochen, Anténor, der ein Verbündeter Teucers ist. Sie erliegt der verbotenen Liebe und schließt sich ‒ nach verschiedenen Abenteuern und der Intervention der Göttin Venus ‒ mit Dardanus zusammen, was schließlich Teucers Unnachgiebigkeit bricht. Als Rameau im November 1739 Dardanus an der Königlichen Musikakademie in Paris zur Aufführung brachte, sah er sich wegen der Unglaubwürdigkeit des Librettos von Leclerc de La Bruère starker Kritik ausgesetzt – was dazu führte, dass die Oper trotz allen musikalischen Reichtums abgesetzt wurde.
Rameau jedoch gab sich nicht geschlagen und bereitete 1744 das Werk zur Wiederaufnahme vor. Dafür befreite er es von den Bestandteilen des „Merveilleux“ zugunsten der Darstellung der Leidenschaften. Für die Reprise wurden der Prolog und der zweite Akt nur geringfügig überarbeitet, während die letzten drei Akte völlig neu waren. Das „Wunderbare“ des vierten Aktes (Dardanus’ Schlaf und sein Kampf mit dem Monster) verschwand zugunsten einer prachtvollen Szene zu Beginn des Aktes, die den verzweifelten Dardanus im Kerker zeigt. Ab dem 15. Mai 1744, also nicht einmal drei Wochen nach der Premiere, überarbeitete Rameau, wohl wegen gewisser Längen, wiederum den Großteil des dritten Aktes, die drei letzten Szenen des vierten sowie das Divertissement des fünften Aktes. Diese Überarbeitungen veränderten den Sinn der Handlung nicht tiefergreifend, sondern verschärften das dramatische Geschehen. Auch die Rollen der Iphise und des Anténor änderten sich gegenüber der Version von 1739, die Prinzessin ist nun deutlich aktiver: Im vierten Akt entschließt sie sich, Dardanus zu befreien, damit er der Ermordung durch Anténor entkommen kann. Aténor fühlt sich aus Eifersucht und Zurückweisung dazu gedrängt, einen Plan zu Dardanus Verschwinden auszuhecken, womit sein Heldentum zu bröckeln beginnt.
Es gibt also nicht nur eine Version von Dardanus aus dem Jahr 1744, sondern für die letzten drei Akte zwei. Die neue kritische Ausgabe von Denis Herlin bietet erstmals die Möglichkeit, auch die Fassung vom Mai 1744 wiederherzustellen. Zugleich geben ihre Anhänge den Ausführenden das vollständige Material, um die Fassung vom April 1744 zu spielen, von der viele Teile seither nicht mehr zu hören waren. Im Zuge seiner Wiederaufnahme 1760 wurde Dardanus bis 1771 zu einer der erfolgreichsten Opern. Neben der Auslassung des Prologs nahm Rameau nur geringfügige Änderungen an der Fassung vom Mai 1744 vor. Auch diese wenigen Änderungen sind in der kritischen Neuausgabe enthalten.
Als Rameau im April 1744 Dardanus als Partitur herausbrachte, vermerkte er auf dem Titelblatt „Nouvelle tragédie“, andere, später überarbeitete Opern erhielten keinen solchen Vermerk. Ganz offenbar stellte die Fassung von 1744, obgleich seine Musik in weiten Teilen mit der der Fassung von 1739 identisch ist, in seinen Augen eine neue Oper dar.
Denis Herlin
(aus „[t]akte" 1/2020)