„Essay on Shadow and Truth” nennt Charlotte Seither ihre Komposition für großes Orchester, deren erster Teil mit dem BBC Symphony Orchestra London unter der Leitung von André de Ridder zur Aufführung kam. Das gesamte Orchesterwerk wurde im April 2008 in Krefeld uraufgeführt.
„Zu Beginn eines Stückes steht für mich der ‚innere Raum’ als erste Vorstellung”, sagt Charlotte Seither auf die Frage nach ihre neuen Orchesterstück Essay on Shadow and Truth. „Das ist nichts Architektonisches oder Dreidimensionales, sondern eher die Vorstellung, dass ein Ton eine zusätzliche Dimension hat, die über Parameter wie Höhe oder Dauer hinausgeht – eine Art dritten Ort, den man den emotionalen Raum oder die Tiefe des Tones nennen könnte. Das bringt natürlich das Problem der Notierbarkeit mit sich, weil für mich das Notat immer nur eine Chiffre ist für einen Klang. Und dazu gehört sehr viel mehr als das, was ich in einer Note kodieren kann, eben die innere Physiognomie oder Tiefe des Tones, eine andere Art der Psychologie.”
Für Essay on Shadow and Truth stand ihr das große romantische Orchester zur Verfügung, also das hochdifferenzierte Potenzial dieses großen Apparats, der ja das Ergebnis einer langen Verfeinerung der klanglichen Möglichkeiten ist. „Die Arbeit mit dem Orchester könnte für mich auch ganz andere Formen hervorbringen, zum Beispiel würde ich gerne ein Stück schreiben, bei dem in jede Orchestergruppe Vokalstimmen integriert sind, ein Chor, der an die Funktionalität der Instrumente angeglichen ist, in dem also Vokalität und Instrumentalität zusammen einen Verschmelzungsprozess eingehen, nur dass die Klangerzeugung halb instrumental, halb körperlich gestaltet ist. Oder ein Orchester, in dem eine große Violagruppe als Schattengruppe in der Mitte sitzt und als Innenschatten eines Mezzosoprans agiert, also eine Art Orchesterlied, in dem mit einer Art Delaytechnik Nachhangsituationen geschaffen werden. Ich kann mir vorstellen, dass man Orchester auch ganz anders definiert. Trotzdem bin ich bei jeder Mahlersinfonie erneut zutiefst demütig, was ein Orchester leisten kann. Mir persönlich kommt das Orchester sehr entgegen, weil man Klänge synthetisieren kann, die man nicht erklären kann. Mir sagte jemand in London, dass es in dem neuen Orchesterstück Momente gab, wo man eine ganze Weile dachte, Elektronik zu hören (die es in dem Stück nicht gibt), weil Lagen von Instrumenten miteinander verschmolzen sind, die sonst nicht miteinander kompatibel sind. Was mich interessiert, sind Mischklänge, die sich aus zwei, drei oder vier Komponenten zusammensetzen und die ich nicht erzeugen könnte, wenn ich nur eine Klangfarbe zur Verfügung hätte.”
Komponierte Unschärfe
Charlotte Seither vergrößert in Essay on Shadow and Truth einen Effekt, der ohnehin das Orchester und große Apparate auszeichnet, nämlich den der Unschärfe, da es im Zusammenwirken von großen Klangkörpern niemals absolute Gleichzeitigkeit oder Einstimmigkeit gibt. Der Effekt der Unschärfe wird in dieser äußerst präzisen Partitur auf verschiedenen Ebenen erzeugt bis hin zu aleatorischen Spielweisen, in denen Offenheit und Modulation zum Prinzip erhoben sind.
Ein weiteres Mittel: Das Schlagzeug wird so behandelt, dass es in bestimmten Klanglichkeiten agiert und anderen Orchestergruppen zugeordnet ist. „Ich habe eine Rhetorik entwickelt, bei der die Schlaginstrumente wie Vokalstimmen mit horizontal verlaufenden Linien behandelt werden, die genauso gestaltbar sind wie eine vokale Stimmführung. Ich verwende zum Beispiel die Pauke so gut wie nie punktuell in der Vertikalen, sondern fließend, indem ich ein umgedrehtes Becken mit der Öffnung nach oben auf sie legen lasse, das Becken wird dabei angedreht und gleichzeitig das Paukenfell durch Pedalisierung in der Intonation verändert. So wird das punktuell Perkussive der Pauke suspendiert, das normalerweise im herkömmlichen Orchestersatz Interpunktionen bildet. Ich erreiche auf diese Art, dass die Pauke wie die erste Geigengruppe behandelt werden kann. So entstehen viele graduelle Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Gruppen. Eine wichtige Korrespondenz erzeugt zum Beispiel die Windmaschine, die zur Verlängerung der Luftgeräusche der Bläser wird, sowie Spielzeugheulrohre, die als ,Piccolos‘ der Windmaschine mit höheren Obertönen eingesetzt werden. Das heißt, dass ich Klangfarben gruppiere, die sich als graduelle Vergrößerung oder Verkleinerung zueinander beziehen lassen, wie die Verbindung Bläserstimmen – Luftgeräusch – Windmaschine – Heulrohre. Entsprechende Korrespondenzen zu den Luftgeräuschen gibt es bei den Streichern.”
Struktur des Ausatmens
Dieses Verfahren bringt bestimmte formale Konsequenzen mit sich, die aus der Klangerzeugung unmittelbar resultieren, wenn etwa der Ton der Windmaschine nur mit einem Vorgang des langsamen Anschwellens erzeugbar ist. „Ich habe mich in diesem Stück von einer konventionellen dramatischen Form gelöst und eher eine flache Struktur geschaffen, eine Struktur des Ausatmens oder Decrescendierens über einen längeren Prozess, der dann von neuen Impulsen und Energie abgelöst wird. So besteht das Stück aus fünf Wellen, die alle in ihrer Grundphysiognomie ähnlich sind. Dramatisch sind diese Steigerungen nicht, auch wenn sie laut und komplex sind, denn sie werden immer konterkariert. So habe ich bei den Wellen damit gearbeitet, dass auf der Ebene der Orchestration, Rhythmik, Energetik viele Impulse frei gesetzt werden, dies aber auf der Schiene der Harmonik untergraben wird. Insgesamt hat es mich interessiert, eine Form von dreißig Minuten zu bauen, in der kein Dualismus, keine Höhepunktsdramaturgie und keine Schwarzweißmalerei entsteht, die im Gesamten also fast statisch ist.”
Es entsteht eine naturhafte Organik in höchster Ereignisdichte, die von den Interpreten aus genau kalkulierter Ungenauigkeit und spielerischer Offenheit erzeugt wird und mit der Charlotte Seither eine eigene Art der Zeitwahrnehmung anstrebt, die eben nicht zielgerichtet ist: eine Hörhaltung, in die sich der Zuhörer begibt und sich darin befindet, ohne einen zwingenden Ablauf zu verfolgen. In der Fülle der Ereignisse dürfte der Hörvorgang eine ganz eigene Art von Spannung und Aufmerksamkeit erzeugen: Und der Titel: Shadow and Truth – Schatten und Wahrheit? „Ein schräger Gegensatz, der verschiedene Kategorien in einen schiefen Winkel zueinander setzt.”
Marie Luise Maintz
Charlotte Seither
Essay on Shadow and Truth für Orchester (2007)
Uraufführung: Krefeld 29.4.2008: Niederrheinische Sinfoniker, Leitung: Graham Jackson
Orchester: 3 (2. auch AFl, 3. auch Picc), 2, Eh, 2, BKlar, 2, Kfag – 4, 3, 3, 1 – Pk, Schlg (4) – Hfe – Str (mindestens 12, 10, 8, 7, 5) / ca. 30 Minuten
Verlag: Bärenreiter (Aufführungsmaterial leihweise)