Othmar Schoecks Oper aus dem Jahr 1927 hat in wenigen Wochen zwei prominente Neuinszenierungen erfahren, am Theater Basel und an der Sächsischen Staatsoper Dresden. Uwe Schweikert hat beide Inszenierungen gesehen und schildert die in beiden Fällen stringenten Ansätze der Regisseure.
Aura des Außerordentlichen
Othmar Schoecks Oper Penthesilea gehört zu den Stiefkindern des modernen Musiktheaters. Begegnet man dem selten gespielten Werk in einer adäquaten Aufführung, wie jetzt innerhalb weniger Wochen gleich zweimal – am 2. November 2007 in Basel und am 10. Februar 2008 in der Dresdner Semperoper, der Stätte der Uraufführung vor 81 Jahren am 8. Januar 1927 –, so geht eine Aura des Außerordentlichen von dem spröden, strengen Werk aus. Schoeck hat Kleists Trauerspiel auf den Kern einer konvulsivischen Todespassion, die Begegnung der Amazonenkönigin Penthesilea mit dem Griechenkönig Achilles auf dem Schlachtfeld bei Troja, zusammengestrichen. Am Ende dieses Verschlingungstriebes aus Eros und Gewalt, bei dem sich – berühmtes Zitat – „Küsse“ auf „Bisse“ reimen, steht der bestialische Mord, wenn Penthesilea den waffenlosen Achilles zerfleischt.
Konträrere Ansätze als in Basel (Hans Neuenfels) und Dresden (Günter Krämer) kann man sich kaum vorstellen. Und doch waren beide ein gleichermaßen überzeugendes, gleichermaßen beeindruckendes Plädoyer für Schoecks Sturmwind Penthesilea.
Abgründige Gratwanderung
Neuenfels hat sich in seiner höchst konzentriert gearbeiteten Inszenierung weder aufs Glatteis der naturalistischen Vergröberung noch auf das der expressiven Übersteigerung begeben, sondern den atemlosen Sog, der von Kleists Text wie von Schoecks musikalisch überaus konzisem Melodram ausgeht, durch eine doppelte Verfremdung ästhetisch gefiltert. Die Szene (Bühnenbild: Gisbert Jäkel) zitiert einerseits Elemente klassizistischer Architektur (und spielt damit auf die Zeit seiner Entstehung an), stellt andererseits aber auch ein Theater dar (und rückt es damit in die Situation des Zuschauers) – ein Theater, auf dem die extremen Gefühlszustände dieser Todespassion zeitlupenhaft gedehnt und damit in all ihrer beklemmenden Schönheit vorgeführt werden.
Vor dem Hintergrund der von Schoeck musikalisch imaginierten Kriegsmaschinerie – die mit Pfeil und Bogen bewaffneten Amazonen in schwarzen Wehrmachtsmänteln, die Griechen eine wie aus dem Theaterfundus ausstaffierte bunte Truppe männlichen Imponiergehabes (Kostüme: Elina Schnizler) – entwickelt Neuenfels die tödliche Begegnung in oftmals geradezu quälender Ruhe. Und damit in provokantem Gegensatz zum affektiven Sprachgestus, mit dem Schoecks melodische Deklamation sich den Verskatarakten Kleists anschmiegt. Ganz im Irrealen findet die Liebesbegegnung statt, das nachkomponierte große Duett, für das Neuenfels Penthesilea aufs weiße Gipspferd, Achilles an den schwarzen Flügel setzt.
Fürs Ende – den Auftritt Penthesileas mit der Leiche Achills – findet Neuenfels ein beklemmendes Bild, das den Schrecken ins Surreale hebt. Penthesilea schiebt einen mit einem Netz verhüllten Rollstuhl vor sich her. Obenauf liegt der mit Blut verschmierte tödliche Pfeil. Aus dem Gefährt selbst hebt sie mehrere blutige Koffer herab, die sie sterbend küsst – Zeichen der pathologischen Exaltation, mit der sie die Unbedingtheit der Liebe bis in den Wahn treibt.
Dass diese abgründige Gratwanderung gelingen konnte, ist der jungen Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner zu verdanken, die in Basel die Titelpartie sang. Ihre Penthesilea war endlich einmal beides, „halb Furie“ und „halb Grazie“, wie Kleist es sich erträumte. Gerade durch ihre schlanke (auch stimmlich schlanke, ja weiche, selbst in der Tiefe noch tragfähige) Mädchenhaftigkeit wirkte der Wandel des „wunderbaren Weibs“ von der wahnhaften Starre über das ungläubig fragende Erstaunen bis zur verstummenden Hilflosigkeit angesichts der Tat in dieser Schlussszene umso ergreifender – eine in den Modulationen der Tonfälle von Eros und Gewalt spielerisch wie sängerisch ganz außerordentliche Leistung.
Am Pult stand Mario Venzago, der das Sinfonieorchester Basel zu rhythmisch präzisem, konzentriertem Spiel anhielt. Er besaß Gespür nicht nur für den schroffen Klang von Schoecks höchst eigenwilliger Instrumentation, sondern ebenso für den sprachnahen Gesangsstil dieser Musik. Ob es wirklich der Einführung einer Sprecherin und der vielen Retuschen in Schoecks Partitur bedurft hätte, die Venzago im Programmheft rechtfertigt, steht auf einem anderen Blatt.
Im weltenthobenen Nirgendwo
Ganz anders, aber in ihrem schockierenden Vollzug nicht weniger ergreifend die kargere, nüchternere Dresdner Inszenierung von Günter Krämer, der sich weit stärker als Neuenfels auf die Liebestragödie von Penthesilea und Achilles konzentriert. Jürgen Bäckmann hat ihm auf die leere Bühne ein großes, flaches Podest gesetzt, auf dem eingangs die kriegerischen Auseinandersetzungen stattfinden. Nach der Niederlage Penthesileas durch Achilles hebt sich das Podest in die Vertikale und präsentiert frontal die beiden wie in einem Netz gefangenen Protagonisten, die sich langsam von der jetzt goldschimmernden Spiegelwand abseilen. Später schließt Bäckmann den Raum durch einen schwarzen Vorhang, so dass sich der Liebestodeskampf um die gegenseitige Unterwerfung in einem weltenthobenen Nirgendwo abspielt, das sich erst am Schluss wieder einen Spalt weit öffnet und mit der blutbesudelten Penthesilea zugleich die Leiche des Achilles freigibt. Zeitlos aktuell sind auch die Kostüme der Amazonen (Falk Bauer): schwarze, schulterfreie Reifröcke, von denen sich die weißgekalkten Hände, Gesichter und Haare fast gespenstisch abheben. Nichts lenkt hier von der Konzentration auf das Schicksal der beiden Kontrahenten ab, das mit der Unerbittlichkeit einer antiken Tragödie abrollt.
Krämers Regie überlässt die Wucht des ungeheuerlichen Vorgangs – „Sie hat ihn wirklich aufgegessen, den Achill, vor Liebe“, schrieb Kleist an seine angeheiratete Verwandte Marie von Kleist (Krämer lässt sie zu Beginn den Brief rezitierend auftreten) – fast ganz der Musik. Das rückt die Titelpartie, mit der jede Aufführung des Stücks steht oder fällt, vollends ins Zentrum. Iris Vermillion verkörperte die Liebesraserei der Penthesilea mit besessenem Ausdruck und gebot souverän über die dunklen, bronzenen, bis in die Altregion hinunterreichenden Töne wie über die ekstatische, die Soprankantilene mehr als einmal übersteigende Höhe. Insbesondere mit ihrem Schlussgesang zog sie das Auditorium völlig in Bann. Anders als Tanja Ariane Baumgartner aber war sie mehr Furie als Grazie, mehr furchterregende Täterin als berührt-berührendes Opfer einer erst in der Grenzüberschreitung zum Tod sich ihrer Tat bewusst werdenden Frau.
Gerd Albrecht am Pult hat mit der glänzend disponierten Sächsischen Staatskapelle sowohl die hitzige Ekstase des rauschhaften Liebesduetts wie die unglaubliche Härte herausgearbeitet, mit der Schoeck, Jahrzehnte vor Orffs Antigonae die Musik gleichsam auf den Rhythmus ostinater Schläge skelettierend, Wort und Handlung akzentuiert. Die Musik will in Schoecks schroffer, dissonanter Vision nichts anderes sein als die rhythmisch-klangliche Unterstützung des gesungenen oder gesprochenen Worts. Dieses „eherne Klirren“ fordert vom Dirigenten eine dienende Askese, die Albrecht mit höchster Spannkraft zu geben gewillt war. Leider ließ auch er sich nicht davon abhalten, unnötige Retuschen und dramaturgisch problematische Striche vorzunehmen.
Beide Male, in Basel wie in Dresden, hat Schoecks Penthesilea ihre theatralische Lebensfähigkeit auf überzeugende Weise bewiesen. Beide Male war das Publikum aufs höchste beeindruckt, ja gebannt und dankte den Interpreten mit Ovationen.
Uwe Schweikert
(aus takte 1/2008)
Kleines Photo oben: Die Unbedingtheit der Liebe, die in den Tod führt. Tanja Ariane Baumgartner, die Basler Penthesilea (Photo: Tanja Darendorf)
Großes Photo rechts: Gefangen im Netz: "Penthesilea" in Dresden (Photo: Matthias Creutziger)
Sturmwind „Penthesilea”. Othmar Schoecks Oper in Basel und Dresden
Othmar Schoeck
Penthesilea. Oper in einem Aufzug nach dem Trauerspiel von Heinrich von Kleist
Personen: Penthesilea (Mezzosopran), Prothoe (Sopran), Meroe (Sopran), Oberpriesterin (Alt), Achilles (Bariton), Diomedes (Tenor), Herold (Bariton) – Chor
Orchester: 3 (auch Picc), 1 (auch Eh), 8, 2 BKlar, Kfag – 4,4,4,1 – Pk, Schlg (3) – 2 Klav – 4 Solo-Violinen und tiefe Streicher – Bühnenmusik: 3 Trp
Verlag: Bärenreiter
Neu: Penthesilea-Suite für Orchester (Arrangement: Andreas Delfs), Aufführungsdauer: 25 Minuten